Foto 1: Viele Menschen erkranken an Cholera; Foto 2: Arion Terrill (rechts) verteilt Nahrungsmittel; Foto 3: Das Lager Parc Cadeau.

Das Sterben in Pascado

Über die Situation der Flüchtlinge in Haiti an der Grenze zur Dominikanischen Republik

Die Lebensbedingungen von Flüchtlingen und Migranten sind ein globales Thema. Doch nicht überall wird darüber so viel gesprochen wie zur Zeit in Deutschland. Das Elend in Lagern dominikanischer Migranten haitianischer Abstammung an der Grenze zwischen Haiti und der Dominkanischen Republik wird von der internationalen Gemeinschaft und den lokalen Behörden weitgehend ignoriert. Das kostet täglich Menschenleben. Der Bielefelder Journalist Andreas Boueke hat Welt&Handel den folgenden Bericht zur Verfügung gestellt. Boeuke lebt in Guatemala und berichtet seit mehr als 20 Jahren über das Leben in Südamerika. Gerne drucken wir den Text an dieser Stelle ab, auch wenn das Thema Fairer Handel ausschließlich im übergeordneten Kontext eine Rolle spielt.

 

„Ich habe beobachtet wie Kinder verhungern“, sagt Eliezer Catraballo. Der kräftige Mittvierziger lässt seinen Blick über die wackligen Hütten des Lagers Pascado streifen. Er selbst lebt in dem Städtchen Pedernales im Süden der Dominikanischen Republik. Ab und zu überquert er die Grenze zum Nachbarland Haiti, um ein paar Nahrungsmittel in eines der Migrantencamps zu bringen. Viel ist es nicht. Er selbst verdient gerade mal genug, um seine Familie zu ernähren. „Ich sehe, wie Menschen an Cholera erkranken und schließlich sterben.“ Diese Menschen sind vor einem halben Jahr aus der Dominikanischen Republik vor einer zunehmend aggressiven Stimmung gegenüber Personen haitianischer Abstammung geflüchtet. 

„Das alles ist furchtbar“, fährt Eliezer fort. „Aber zu sehen, wie sie Baumwurzeln aus der Erde graben, ist das Schlimmste. Es ist wie ein Symbol, dass ihre Situation hoffnungslos ist.“

Holzkohle als einzige Einnahmequelle

Das T-Shirt von Eliezer ist verschwitzt und verstaubt. Er steht auf einem Stück Land, auf dem ehemals Bäume wuchsen. Davon zeugen alte Wurzeln, die noch immer aus dem Boden ragen. Doch auch die werden jetzt von einigen hungrigen Männern mit dürren Körpern, schwachen Armen und mit Hilfe schwerer Felsblöcke aus der Erde gegraben, um sie zu Holzkohle zu verarbeiten. Ab und zu kommt ein Zwischenhändler mit einem klapprigen Lastwagen vorbei und kauft das schwarze Feuermaterial, um es zwei Tage später auf einem Markt in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince zu verkaufen.

Umweltorganisationen schätzen, dass 98 Prozent des ursprünglichen Waldbestands Haitis zerstört sind. Die Männer mit rußverschmierten Gesichtern wissen, dass ihre Arbeit dem geschundenen Ökosystem einen weiteren Todesstoß versetzt. „Aber was sollen wir machen?“ fragt François, ein Mann, der nicht so alt ist, wie er aussieht. Aber wahrscheinlich hat er eine kürzere Lebenserwartung als die der meisten sehr alten Männer. „Wir haben Hunger. Es gibt hier keine andere Einkommensquelle. Mit der Holzkohle verdienen wir am Tag nicht mehr als den Preis für ein paar Pfund Reis. Wenn wir diese Arbeit nicht machen würden, könnten wir nicht einmal Reis essen.“

In vier informellen Camps leben tausende Migranten

Neben den vielen Löchern im Boden stehen ein paar stachlige Kakteen. Die ersten Hütten des Lagers Pascado sind keine hundert Meter entfernt. Auch dort ist der Boden staubig. Pascado ist eines von vier informellen Camps im Süden Haitis, in denen ein paar tausend Migranten leben und sterben. Gezählt hat sie bisher niemand.

Anfang Dezember hat das Gesundheitsamt auf der dominikanischen Seite einen sanitären Notstand ausgerufen. Die Choleraepidemie im Grenzgebiet hat Ausmaße angenommen, die nicht mehr zu kontrollieren sind. Eigentlich sollte der Grenzübergang geschlossen werden, um die Bevölkerung auf der dominikanischen Seite zu schützen. Aber bisher hat sich niemand an diese Anweisung gehalten. Die Grenze ist noch immer offen. Es wäre auch nicht wirklich sinnvoll, den Übergang zu schließen, denn nur ein paar Meter entfernt kann man die Grenze völlig problemlos illegal überschreiten.

Öffentliche Krankenhäuser sind zu teuer

Pierre-Fils Lamartine ist der Repräsentant des haitianischen Gesundheitsministeriums in der Gegend und Direktor des Krankenhauses in dem Grenzort Anse-á-Pitres. Auf Französisch, der Amtssprache Haitis, versichert er, dass er sich der Notlage bewußt ist und alle notwendigen Maßnahmen in die Wege geleitet hat. „Wir kümmern uns um alle Kranken, die Hilfe brauchen.“ Doch das entspricht nicht der Wahrheit. Wer in dem öffentlichen Krankenhaus behandelt werden will, muss bezahlen.

Kreuze und Voodoo-Puppen im Einklang

Das vierzehnjährige Mädchen Emmelie aus dem Lager Pascado erzählt in breiten Kreyòl, der zweiten offiziellen Sprache Haitis, wie sie in der vergangenen Woche mit ihrem kranken Vater hilfesuchend in die Notaufnahme kam: „Wir haben kein Geld. Nichts. Die Ärzte haben uns eine Flasche Wasser und zwei Tabletten gegeben. Für eine Behandlung hätten wir 1600 dominikanische Pesos zahlen müssen. Das sind über dreißig Euro. Woher sollen wir soviel Geld bekommen?“ Zwei Tage später starb Emmelies Vater in dem Camp Pascado. Seine Leiche lag noch Tage lang in der Hitze. „Niemand hat uns mit einem Sarg geholfen. Es gibt ja kein Holz. Schließlich haben wir ihn einfach so in der Erde vergraben, dort oben auf dem Hügel.“ Das Mädchen deutet in Richtung einer schattenlosen Anhöhe, auf der einige kleine Kreuze aus Draht stehen. An manchen hängen tönerne Figuren, die bei Voodoo-Ritualen genutzt werden. Die meisten Haitianer glauben an die heilenden Voodoo-Kräfte ihrer verstorbenen Angehörigen.

Von dem Hügel aus hat man einen guten Blick Richtung Norden. Dorthin führt die Staubpiste, auf der ab und zu ein Lastwagen an dem Lager vorbeifährt. Privatfahrzeuge verirren sich fast nie in diese Gegend, aber mehrmals am Tag kommen LKWs der Vereinten Nationen und des Roten Kreuzes vorbei, deren Fahrer in Anse-á-Pitres gestartet sind. Doch die internationalen Organisationen, die sich seit Jahren in Haiti engagieren, fühlen sich offenbar nicht zuständig für das Elend der Menschen in dem Lager Pascado.

"Jetzt verhungern auch die Kinder"

Einer der wenigen Hilfsarbeiter, die seit drei Monaten regelmäßig in den Lagern vorbeikommen, ist Arion Terrill von der US-amerikanischen Organisation Soylent. Sie stellt den Hungernden ihr speziell entwickeltes Nahrungsmittel in pfundschweren weißen Plastiktüten zur Verfügung. Bei der Verteilung kommt es nicht selten zu Streit und Chaos, weil sich einige Hungernde benachteiligt fühlen. Trotz aller Probleme erlebt Arion seine Arbeit als sehr befriedigend. „Wir bieten Alternativen zu den herkömmlichen Nahrungsmitteln“, sagt der junge Hilfsexperte, um dessen Hals eine Kette mit einem Holzkreuz hängt, das er immer wieder zwischen Daumen und Finger reibt. „In einer Situation wie dieser rettet unser Produkt Menschenleben.“

Auf die Frage nach seiner eigenen Befindlichkeit findet der Krisenhelfer lange keine Antwort. Er steht da, reibt sein Kreuz und schweigt. So entsteht der Eindruck, als hätte er selber dringend seelsorgerische Unterstützung nötig. „Das kann schon sein“, bestätigt er. „Zwei Menschen, mit denen ich Freundschaft geschlossen hatte, sind gestorben. Und jetzt verhungern ihre Kinder. Solche Erlebnisse machen nachdenklich.“ Aber Urlaub will Arion auf keinen Fall machen. „Es gibt noch so viel zu tun. Und es kommen immer neue Menschen in die Lager. Jeder Tag ohne Nahrungsmittelhilfe kann weitere Leben kosten.“

"Keiner weiß, ob das Wasser sauber ist"

Eliezer Catraballo hat sein persönliches kleines Hilfsprojekt. Er verteilt Kekse aus zwei großen Kartons an ein paar Dutzend Kinder. Einige ausgemergelte Erwachsene stehen daneben und nicken ihm freundlich zu. Sie glauben nicht, dass ihre Angehörigen an Cholera oder anderen Krankheiten sterben. „Wir verhungern“, versichert Danilo, ein noch recht stämmiger Mann, der einen Plastikeimer voll Wasser auf einer Schulter trägt. Das Wasser hat er aus einem Rohrausgang geholt, zu dem er eine halbe Stunde lang laufen musste. Eliezer ist nicht besonders glücklich über dieses Rohr. „Die Europäische Union hat es vor zwei Jahren verlegt“, erklärt er. „Das Projekt hat ein paar hunderttausend Euro gekostet. Es bringt Wasser nach Anse-á-Pitres von dem Fluss, der weit entfernt oberhalb der Camps fließt. Als ich den Ingenieur gefragt habe, wie das Flusswasser behandelt wird, hat er geantwortet, dafür seien die lokalen Institutionen zuständig. Doch hier gibt es keine lokalen Institutionen, die kontrollieren, ob das Wasser sauber ist.“  

Trotzdem macht sich Danilo jeden Tag auf den Weg zu der Stelle, an der Wasser aus dem Rohr fließt. Er lebt mit seiner Frau und sechs kleinen Kindern in einer Hütte aus Karton, Stofffetzen und Müll. „Ich denke schon, dass das Wasser hier besser ist, als das aus dem Fluss, der da drüben fließt. Dort waschen wir unsere Wäsche und baden. Dasselbe machen die Menschen in den Gemeinden weiter oben. Sie kippen Müll, Fäkalien und was weiß ich noch in den Fluss.“

"Sie wollen uns in der Dominikanischen Republik nicht mehr"

Danilo spricht Spanisch. Er versteht nur wenig Kreyòl und überhaupt kein Französisch. Geboren wurde er in der Dominikanischen Republik, genauso wie sein Vater. Es war sein Großvater, der vor Jahrzehnten aus Haiti ins Nachbarland gezogen ist, um dort auf Zuckerplantagen zu arbeiten. Bis vor einem halben Jahr ist Danilo nie in Haiti gewesen. Er kennt und versteht die Kultur des Landes nicht. Die Rituale des Voodoo machen ihm Angst. Er hat keine Papiere haitianischer Behörden und glaubt nicht, dass er in diesem Land willkommen ist. Aber in die Dominikanische Republik traut er sich auch nicht zurück. „Wir wollten dort bleiben, aber dann haben unsere dominikanischen Nachbarn begonnen, uns als schmutzige Haitianer zu beschimpfen. Manche waren Leute, für deren Eltern schon mein Großvater gearbeitet hat. Sie wollen uns dort nicht mehr. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Wenn sich nicht bald etwas ändert, werden wir alle sterben. Aber wen interessiert das schon?“

 

INTERVIEW

„Für die Ärmsten unter den Migranten interessiert sich niemand.“

Die Hintergründe der Krise an der Grenze zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik

 

Die englische Sozialwissenschaftlerin Bridget Wooding ist die Direktorin von OBMICA, dem Beobachtungszentrum für Migration in der Karibik. Ihr Büro liegt in der Nähe des kolonialen Zentrums von Santo Domingo, der Hauptstadt der Dominikanischen Republik.

 

Frage: Haiti und die Dominikanische Republik sind zwei verschiedene Länder auf ein und derselben Insel. Wie würden Sie die Beziehungen zwischen den beiden Gesellschaften beschreiben?

 

Bridget Wooding: Das Nebeneinander war schon immer sehr kompliziert. Haiti ist heute das ärmste Land des amerikanischen Kontinents, während die Dominikanische Republik als Schwellenland bezeichnet werden kann, in dem die Menschen einen vergleichsweise deutlich höheren Lebensstandard genießen. Deshalb kommen so viele Haitianer über die sehr schlecht gesicherte Grenze auf der Suche nach besseren Lebenschancen.

 

Frage: Die beiden Kulturen sind sehr unterschiedlich. Die Menschen sprechen verschiedene Sprachen. Seit wann gibt es trotzdem so viele Migranten?

 

Bridget Wooding: Schon immer. Die Geschichte der Migration begann lange vor den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Zu der Zeit wurden sehr viele arme Haitianer von der damaligen US-amerikanischen Besatzungsmacht beider Länder dazu angehalten, in die Dominikanische Republik zu ziehen, um dort auf großen Zuckerplantagen zu arbeiten. Als anfang der achtziger Jahre das Ende der Zuckerindustrie begann, nahm die Migration aus Haiti trotzdem zu. Gerade in der chaotischen Transitionsphase nach dem Ende der Diktatur von Baby Doc im Jahr 1986 haben die Haitianer in jeder Nische der dominikanischen Wirtschaft einen Platz gefunden. Diese Situation hätte reguliert werden müssen, spätestens vor der Verabschiedung neuer Migrationsgesetze im Jahr 2004. Doch erst im Jahr 2014 begannen die dominikanischen Behörden mit einem achtzehnmonatigen Programm. Die Nachkommen haitianischer Migranten, die in der Dominikanischen Republik geboren wurden, hatten ein Jahr lang Zeit, ihren Status zu klären. Doch für die betroffenen Menschen war der Prozess teuer und kompliziert. Zum Beispiel mussten sie eine Bescheinigung des Krankenhauses vorlegen, in dem sie geboren worden sind. Aber die meisten haitianischen Frauen bringen ihre Kinder zu Hause zur Welt. Für solche Probleme der Ärmsten unter den Migranten hat sich niemand interessiert. Viele von ihnen glaubten auch nicht wirklich, dass sie angemessene Ausweise bekommen würden. Die Regulierungsphase ging im Juni 2015 zu Ende. Im Juli und August haben die dominikanischen Behörden dann die Menschen, die ihren Status nicht geklärt hatten, aufgefordert, das Land zu verlassen. Es kam zu deutlichen interrassialen Spannungen. Menschen hatten Angst um ihr Leben und einige entschieden sich, die Grenze nach Haiti zu überqueren.

 

Frage: Ist das der Grund, weshalb jetzt Tausende Menschen in informellen Lagern in der Nähe der Grenze leben?

 

Bridget Wooding: Diese Menschen haben keine Familienbeziehungen mehr in Haiti. In vielen Fällen sind es eigentlich Dominikaner mit haitianischer Abstammung, aber sie besitzen keine Papiere, die das bestätigen. Ihre Hautfarbe ist meist deutlich dunkler als die der Dominikaner und sie haben Angst vor Angriffen und Rassismus auf der dominikanischen Seite.

 

Frage: Wie wird es für sie weitergehen?

 

Bridget Wooding: Die dominikanischen Behörden argumentieren, dass sie seit August Deportationen durchführen, die allen humanitären Standards entsprechen. Aber die Situation in den Lagern zeigt, dass die Realität eine andere ist. Doch weder die dominikanischen noch die haitianischen Behörden wollen Verantwortung für diese Menschen übernehmen. So ist eine außergewöhnliche humanitäre Situation entstanden, die bisher keine angemessene Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft bekommt.

 


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